Wenn Gier die Seele frisst

Goethes "Faust" erzählt die Geschichte eines Menschen, der seine Seele verkauft – nicht aus Bosheit, sondern aus innerer Leere. Heute begegnen wir Mephisto (unserem eigenen Teufel) täglich, oft verkleidet als Neid, Gier oder das Versprechen von Status und Macht. Doch in dieser Spirale verlieren wir das Wesentliche: uns selbst. Denn: Das letzte Hemd hat keine Taschen.

Der Mephisto ist unter uns 

"Ich bin der Geist, der stets verneint." – Mephisto in Goethes Faust

Faust ist kein schlechter Mensch. Er ist ein Suchender – ein Gelehrter, der sich nach Sinn sehnt. Doch genau diese Sehnsucht macht ihn verwundbar. Mephisto tritt in sein Leben mit einem verführerischen Angebot: Genuss, Macht, Erfüllung – für den Preis der Seele. Heute sind die Versuchungen subtiler, aber nicht weniger gefährlich: Ein bisschen mehr Einfluss. Ein bisschen mehr Geld. Ein bisschen mehr Anerkennung. Und plötzlich sind wir mittendrin – im modernen Teufelspakt.

Neid und Gier – das neue Goldene Kalb

Faust wollte Erkenntnis, doch er verlor sich im Erleben, in der Gier nach immer neuen Reizen. So geht es auch uns: Wir vergleichen uns ständig. Wir wollen, was andere haben. Wir messen Erfolg in Zahlen – nicht in Wahrhaftigkeit. 

"Dem Schlechten bin ich gewidmet, doch das Gute bring ich ins Leben." – Mephisto

Ironisch, dass Mephisto letztlich Gutes bewirken soll. Denn sein Wirken konfrontiert Faust – und uns – mit der Frage: Worauf baue ich mein Leben? Neid und Gier führen uns in eine Spirale, die nie endet. Denn: Wenn ich mich vergleiche, bin ich nie genug. Wenn ich besitze, will ich mehr. Wenn ich gewinne, fürchte ich den Verlust.

Fausts Absturz: Der Preis des Vergessens

Faust begeht am Tiefpunkt seines Paktes schwere Schuld – Gretchens Tragödie steht sinnbildlich für den Kollateralschaden unseres blinden Strebens. Auch wir zerstören oft Beziehungen, unsere Gesundheit, unsere Authentizität – alles, nur um mithalten zu können.

"Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust." – Faust

Diese innere Zerrissenheit betrifft uns alle: Die eine Seele sehnt sich nach Tiefe, Stille, Verbindung. Die andere will Erfolg, Sicherheit, Bedeutung im Aussen. Doch wenn wir der falschen Seele zu viel Raum geben, verkümmert die andere.

Achtsamkeit als Befreiung vom Pakt

Was wäre passiert, wenn Faust nicht nach "immer mehr" gegriffen, sondern nach innen geschaut hätte? Wenn er nicht nur verstanden, sondern gefühlt hätte? Die spirituelle Antwort liegt nicht im Rückzug, sondern in der Präsenz. Nicht im Leistungsdruck, sondern in der Bewusstheit. 

"Augenblick, verweile doch, du bist so schön." – Faust

Faust wünscht sich, den einen Moment, der alles erfüllt – doch er erkennt ihn erst, als es beinahe zu spät ist. So geht es vielen Menschen: Sie jagen durchs Leben, ohne je wirklich da zu sein. Achtsamkeit ist die Rückkehr zum Wesentlichen. Sie fragt nicht: Was kann ich haben? Sondern: Wer bin ich, wenn ich nichts mehr leisten muss?

Das letzte Hemd hat keine Taschen – doch es trägt Erinnerungen

All unser Streben endet irgendwann – und was bleibt, ist nicht das, was wir besessen haben, sondern wer wir waren. Was wir gegeben haben. Was wir versäumt haben. "Das letzte Hemd hat keine Taschen." Aber es trägt das Gewicht unserer Entscheidungen. Bronnie Ware, eine australische Palliativpflegerin, begleitete über Jahre Sterbende in ihren letzten Wochen. Aus ihren Erfahrungen entstand das Buch "5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen". Es sind keine spektakulären Dinge. Kein "Ich hätte gern mehr Geld verdient" oder "Ich wünschte, ich hätte ein grösseres Auto gehabt". Was sie hörte, war:

1. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben.
2. Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.
3. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, meine Gefühle auszudrücken.
4. Ich wünschte, ich wäre mit meinen Freunden in Kontakt geblieben.
5. Ich wünschte, ich hätte mir erlaubt, glücklicher zu sein.

Ist das nicht genau das, woran Faust fast zerbricht? Er lebt gegen sich selbst, verliert sich im Aussen, verschiebt sein Glück immer wieder auf "später". Und doch: Am Ende, als er innehält, als er den Wert von Gemeinschaft, Natur, Einfachheit erkennt – da wird er erlöst.

Letzte Einladung: Die Seele zurückrufen

Was, wenn wir nicht erst sterben müssen, um zu erkennen, was wirklich zählt? Wenn wir bereit sind, die Spirale von Gier und Neid zu verlassen – wenn wir dem inneren Mephisto freundlich, aber bestimmt die Tür weisen – dann beginnt etwas Neues. Nicht spektakulär. Sondern still. Wahr. Stark. Kein Pakt. Keine Maskerade. Nur du. Ganz. Genug. Jetzt. Wenn du spürst, dass du auf der Suche bist – aber nicht weisst, wie du aussteigen kannst aus der ständigen Jagd – dann atme. Und erinnere dich: Du musst mit niemandem mithalten. Nur mit dir selbst in Frieden sein. Raus aus dem Lärm, hinein ins Wesentliche. Denn manchmal ist die grösste Befreiung nicht das, was wir erreichen – sondern das, was wir endlich loslassen.

Liebe Grüsse Patrik

Buchtipp: 5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen, von Bronnie Ware